Klimagerechtigkeit
Klimagerechtigkeit fragt nicht, ob jemand wegen seiner CO2-Emissionen schuld ist an der Erdüberhitzung, sondern welchen Anteil er durch seinen Konsum daran trägt. Capri Sun Chef Hans Peter Wild fliegt regelmäßig mit seinem Privatjet nach Paris, um als Präsident des Rugby-Vereins »Stade Français« den Spielern in der Kabine zu einem Sieg zu gratulieren.1 Oder: Ein Ureinwohner im brasilianischen Amazonasgebiet, ohne Kontakt zur restlichen Welt.2 Wer emittiert mehr?
»Die reichsten zehn Prozent der Weltbevölkerung waren 2019 für rund die Hälfte der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich.«
- Ein Erdenbürger / eine Erdenbürgerin stößt im Schnitt 4,7 Tonnen CO2 pro Jahr aus.
- Ein Deutscher / eine Deutsche stößt im Schnitt 8,9 Tonnen CO2 / Jahr aus.
- Ein Inder / eine Inderin stößt im Schnitt 1,2 Tonnen CO2 / Jahr aus.4
Was ist ein gerechtes CO2-Budget?
Ein CO2-Budget pro Kopf unter Einbezug der vergangenen Emissionen würde bedeuten, dass wir gar kein CO2 mehr emittieren dürften, sondern Emissionen aus der Atmosphäre ziehen müssten. Da stehen wir erstarrt vor der Unmöglichkeit, 1.400 Milliarden Tonnen CO2 vergangener CO2-Emissionen aus der Atmosphäre ziehen und in der Nordsee speichern zu müssen. Gleichzeitig müssen wir aufhören Autos mit Auspuff zu fahren, aufhören zu fliegen und aufhören Tiere zu essen.
Eine machbare Möglichkeit: Wir Deutschen reduzieren unseren Verbrauch von 10 Tonnen auf eine Tonne. Die Amerikaner, Chinesen, Saudis, Australier, Kanadier und andere Mitmenschen sollten ebenfalls auf eine Tonne reduzieren. Gleichzeitig stellen die G20-Staaten Wissen und Geld für Entwicklungsländern bereit, damit deren Emissionen nicht auf unser heutiges Niveau steigen.
Soll die Erderhitzung nicht dauerhaft über 1,5° steigen, könnten wir noch zwei Jahren emittieren wie jetzt und müssten danach eine Vollbremsung auf null Emissionen machen.5 Reduzieren wir unsere Emissionen ab sofort, reicht unser Budget entsprechend ein paar Jahre länger. Machen wir mit dem Emissionswahnsinn weiter wie jetzt, überhitzen wir die Erde auf über 3° zum Ende des Jahrhunderts. Das Pariser 1,5° Ziel ist nicht mehr erreichbar, das 2° Ziel rückt in immer weitere Ferne.
Das Verursacherprinzip für mehr Emissionsgerechtigkeit
Wer Schaden verursacht, haftet dafür. Dieses Verursacherprinzip auf die Emissionsgerechtigkeit zu übertragen bedeutet: Wer emittiert, bezahlt die Schäden. Wer viel emittiert, zahlt viel, wer wenig emittiert, zahlt wenig. Dies wird über den Emissionshandel (CO2-Preis) bereits umgesetzt, wenn auch noch mit einem viel zu niedrigen CO2-Preis.
Bisher waren das Verschmutzen und das Überhitzen der Erde über Treibhausgasemissionen für die meisten Konzerne kostenlos. Das ändert sich gerade. Vermont ist der erste US-Bundesstaat, der ein Gesetz erlässt, das Ölkonzerne zur Zahlung von Schäden verpflichtet, die durch die Erdüberhitzung verursacht wurden.6 Im Juli 2023 wurde Vermonts Hauptstadt Montpelier überschwemmt. Ebenso die Stadt Barre und einige Orte im Süden Vermonts. Die Schäden wurden als die schlimmsten seit der Flut von 1927 bezeichnet. Im kleinsten Bundesstaat der USA werden jetzt die Emissionen des Zeitraums vom 1. Januar 1995 bis zum 31. Dezember 2024 ermittelt, die dadurch verursachten Schäden beziffert und die Summe auf die Ölkonzerne verteilt. Konzerne, die Öl fördern und verkaufen, werden für die durch sie verursachten Schäden durch Überschwemmungen, Brände und Hitzewellen zur Rechenschaft gezogen. Ein weltweit bisher einmaliger Vorgang, bei dem das Verursacherprinzip bei Schäden durch die Erdüberhitzung per Gesetz angewendet wird. Bundesstaaten wie Maryland, Massachusetts und New York diskutieren über ähnliche Gesetzesvorhaben.
New York braucht bis zum Jahr 2050 etwa 500 Milliarden Dollar, um die Schäden dieser Ölverbrennung zu kompensieren und sich an die extremen Wetterbedingungen anzupassen. Wer soll das alles bezahlen? Die öffentliche Hand? Nein, sagten die New Yorker Senatoren. Die Ölunternehmen haben seit 2021 eine Billion Dollar Gewinn gemacht. Gouverneurin Kathy Hochul unterschrieb ein Gesetz, das die Ölunternehmen dazu verpflichtet, ab 2028 jedes Jahr drei Milliarden Dollar in einen Fond zu bezahlen. Die Höhe der Strafzahlungen richtet sich für jedes Unternehmen nach der Menge der zwischen 2000 und 2018 in die Atmosphäre freigesetzten Treibhausgase. Bis zum Jahr 2050 werden 75 Milliarden Dollar eingezahlt worden sein. Mit diesem Geld kann ein Teil der benötigten Klimaschäden und Anpassungsinvestitionen finanziert werden.7
Erstmals wurde 2023 beziffert, wie hoch die durch unsere Fossilorgien entstandenen globalen Schäden sein könnten. Der Thinktank »Climate Analytics« hat 2023 die Geschäftspraktiken der 25 führenden Öl- und Gasunternehmen weltweit untersucht: Die CO2-Emissionen, die diese Unternehmen zwischen 1985 und 2018 verursacht haben, werden für globale Schäden durch die Erdüberhitzung verantwortlich gemacht. Diese Schäden werden auf ungefähr 20 Billionen US-Dollar geschätzt. Als Berechnungsgrundlage verwendete Climate Analytics 185 Dollar pro Tonne CO2. Die Gewinne der Konzerne in diesem Zeitraum betrugen 30 Billionen Dollar. Die drei größten Emittenten in der Gruppe der Unternehmen sind Saudi-Aramco, Gazprom und NIOC (staatliche iranische Ölgesellschaft). Die Top Five Aktienunternehmen sind ExxonMobil, Shell, BP, Chevron und TotalEnergies.
Ein weiteres Beispiel dafür, wie ein Verursacher haftbar gemacht wird: Ende 2023 verklagt der Bundesstaat Kalifornien ExxonMobil, Shell, BP, ConocoPhillips und Chevron sowie den Industrieverband American Petroleum Institute. Der Vorwurf: Aktive Verbreitung von Falschinformationen zu den Risiken und Schäden, die das Verbrennen von fossilen Energieträgern verursacht.
Anfang 2025 erschien in der Fachzeitschrift nature eine Studie mit dem Name »Carbon majors and the scientific case for climate liability«. Darin kamen die Forschenden unter anderem zu diesen Ergebnissen:
- Hitzewellen in den Jahren 1992 bis 2020 lassen sich auf die Emissionen von 111 Unternehmen zurückführen. Die Schäden betragen 28 Billionen US-Dollar.9
- Die Öl-, Gas- und Kohleunternehmen BP, Gazprom, Saudi Aramco, ExxonMobil und Chevron zählen dabei zu den fünf größten Emittenten von Treibhausgasen. Allein sie sind für etwa 9 Billionen Dollar an Schäden verantwortlich.
Wie ein Ölkonzern eine Hitzewelle verursacht – die „End-to-End“-Attribution
Die „End-to-End“-Attribution ist eine Weiterentwicklung der Attributionsforschung. Die Attributionsforschung untersucht, wie weit ein extremes Wettereignis durch die Erdüberhitzung verursacht sein könnte. Die »End-to-End«–Attribution, hingegen versucht zu bestimmte Emittenten (beispielsweise ein Unternehmen oder einen Staat) mit einer bestimmten Auswirkung der Erdüberhitzung (beispielsweise Hitze oder Dürre) und einem bestimmten Schaden (beispielsweise Ernte- und Produktionsausfälle, Schäden an Gebäuden und Infrastruktur) in Verbindung zu bringen. Ein Ziel der »End-to-End“-Attribution ist es, die durch das Verbrennen von Öl, Kohle und Gas entstandenen Schäden einem Verursacher (Unternehmen) nachzuweisen und diesen für den Schaden finanziell und juristisch haftbar zu machen.
Buchtipp zum Thema »Klimaungerechtigkeit«
Bildquelle: ullstein.de
Dr. Friederike Otto
KlimaUNgerechtigkeit: Was die Klimakatastrophe mit Kapitalismus, Rassismus und Sexismus zu tun hat
Ullstein Verlag
2023
Friederike Otto sieht es als Erfolg an, dass man heute nach einem Starkregen, einer Flut oder einer Dürre fragt: »War das der Klimawandel?«
Die Physikerin und Klimatologin lehrt seit 2021 am Imperial College London. Sie gehört zu den bekanntesten Vertreterinnen der Attributionsforschung (Zuordungsforschung). Diese Disziplin befasst sich mit der Frage, wie wahrscheinlich ein Wetterereignis, z. B. die Ahrtal-Flut 2021 durch die Erdüberhitzung verursacht oder begünstigt wurde. Anders gefragt: Mit welcher Wahrscheinlichkeit wäre das Wetterereignis eingetreten, ohne die menschengemachte Erdüberhitzung?
In einer Analyse von historischen und aktuellen Wetterdaten wiesen Otto und ihr Team nach, dass die Hitzewelle im Jahr 2021 im Nordosten der USA und mit Temperaturen von bis zu knapp 50°, ohne den Klimawandel höchstwahrscheinlich nie eingetroffen wäre.
»Je reicher wir sind und je privilegierter wir leben, desto weniger anfällig sind wir für die physischen Folgen der Erderwärmung. Andersherum gesagt: Wer am wenigsten hat, leidet am meisten an den Folgen des Klimawandels. Sei es aus ökonomischen Gründen, weil die betroffenen Menschen keine Versicherungen abschließen können oder in schlecht isolierten oder mangelhaft gebauten Häusern leben. Sei es aus sozialen Gründen, weil sie weniger Zugang zu Ressourcen und Schutzmaßnahmen haben.«
Friederike Otto verlässt die Erzählung der Erdüberhitzung als ein Naturereignis aus Ursache, der Überschreitung des Kohlenstoffkreislaufs durch menschengemachte Emissionen und Wirkung, der Erdüberhitzung. Stattdessen betrachtet sie Rekordtemperaturen, Stürme und Starkregen als eine soziale Katastrophe. Die Erdüberhitzung ist eine Folge patriarchaler und kolonialer Strukturen, in denen Milliarden Tonnen Öl verbrannt werden. Die Profiteure, die Öl- und Kohleunternehmen, verteidigen dieses Verbrennen gegen alle grünen Transformationskräfte.
Obwohl seit Jahrzehnten bekannt ist, dass das Verbrennen fossiler Brennstoffe diese Katastrophe verursacht, halten wir am Ölverbrennen fest. Deswegen ist die Erdüberhitzung ein politisches und kulturelles Problem.
Daraus folgt ihre Kernaussage: »Die Erdüberhitzung ist ein Symptom der globalen Krise von Ungleichheit und Ungerechtigkeit, nicht ihre Ursache. Trotzdem versucht die fossile Lobby uns zu erzählen, dass Ungerechtigkeit durch die Folgen der Erdüberhitzung entsteht. Eine bequemes Krisennarrativ, um den Status quo fortzuschreiben, diese Ungerechtigkeit nicht ändern zu müssen und Treibhausgasemissionen und Kapital nicht gleichmäßiger verteilen zu müssen.
Die Ungleichheit und Ungerechtigkeit ist nicht nur bei der Verursachung der Erdüberhitzung, sondern auch bei der Anpassung ein Problem. Nahrungsmittelknappheit, Wasserstress und die tödliche Kombination aus hoher Temperatur und hoher Luftfeuchtigkeit treffen Menschen unterschiedlich hart. Diejenigen, die am wenigsten zur Erdüberhitzung beitragen, Menschen mit niedrigen Emissionen, sind am stärksten betroffen. Gleichzeitig haben sie die geringsten finanziellen und strukturellen Möglichkeiten, sich anzupassen, z. B. künstlich gekühlte Häuser und eine robuste Wasserversorgung und Lebensmittelproduktion.
Friederike Otto plädiert in ihrem zweiten Buch für mehr Klimagerechtigkeit. Dazu muss das Ziel einer lebenswerten Welt für alle wichtiger werden, als das finanzielle Interesse fossiler Unternehmen. Diese behaupten, der Ausstieg aus dem Ölverbrennen würde den Wohlstand und das Wachstum gefährden. Dabei meinen sie nur ihren eigenen Wohlstand. Friederike Otto führt den Begriff »Kolonialfossiles Narrativ« ein. Damit bezeichnet sie den Glauben, alles zu können und zu wissen und in Überheblichkeit des fossilen Wohlstands, Warnungen und Wettervorhersagen nicht ernst nehmen: »Wir haben doch die besten Systeme und wissen alles – wie kann da unser Leben in Gefahr sein?«.
Friederike Otto zeigt Maßnahmen auf, welche die Last der Erdüberhitzung sozial gerechter verteilen würde. In Deutschland steht bei der Frage nach Klimagerechtigkeit das Klimageld im Fokus der Diskussion. Dieses wurde laut Koalitionsvertrag von 2021 versprochen. Jeder Bürger in Deutschland bekommt bedingungslos etwa 100 Euro pro Jahr als Ausgleich für steigende CO2-Preise. Diese Zahlung würde die Akzeptanz von Klimaschutzmaßnahmen erhöhen und die Botschaft senden: »CO2-arm zu leben lohnt sich auch finanziell. Was in Österreich und der Schweiz funktioniert, scheitert in Deutschland laut Christian Lindner an einer fehlenden Datenbank der IBANs aller Bürger.
Wenn die Politik nicht schnell genug Maßnahmen für mehr Klimagerechtigkeit ergreift, bleiben noch die Gerichte als Hoffnungsträger: Es gab bereits einige erfolgreiche Klimaklagen. Im Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 16.05.2024, wurde die Bundesregierung verurteilt, ein Klimaschutz-Sofortprogramm zu erlassen, um die im Klimaschutzgesetz verankerten Ziele zu erreichen. Diese sehen eine schrittweise Reduktion der Treibhausgase gegenüber den Emissionen im Jahr 1990 vor:
- Minus 65 % bis 2030
- minus 88 % bis 2040
- minus 100 % bis 2045 = Klimaneutralität
Die bisherigen Bemühungen reichen laut den Brandenburgern Richter nicht aus, diese gesetzlich festgeschriebenen Ziele zu erreichen.
Trotz ihrer Wut auf die Klimaungerechtigkeit schafft Otto es, einen analytischen Blick zu bewahren. Wir haben die Sklaverei abgeschafft, Bürgerrechte erschaffen, Frauen ermöglicht an der Gesellschaft und an Wahlen teilzuhaben. Es sollte uns auch gelingen, das Korsett des Wachstums durch Ölverbrennen zu sprengen.